Hinweisgeberschutzgesetz (HinSchG)

Das Bundesministerium der Justiz hat am 13. April 2022 einen Entwurf für eines „Gesetzes für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen sowie zur Umsetzung der Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden“ vorgelegt. Der Entwurf dient der Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/1937 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Oktober 2019 (ABl. L 305 vom 26.11.2019, S. 17) zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden. Sie wurde durch die Verordnung (EU) 2020/1503 (ABl. L 347 vom 20.10.2020, S. 1) geändert.

Der Entwurf ist auf ein geteiltes Echo gestoßen. Organisationen der Zivilgesellschaft kritisieren den Entwurf deutlich, etwas moderater reagieren andere Verbände. Diese Aufstellung der Stellungnahmen ist nicht vollständig:

Das ist die Stellungnahme der Verbraucherzentrale für Kapitalanleger e.V. vom 11. Mai 2022:

Referentenentwurf eines Gesetzes für einen besseren Schutz hinweisgebender Personen sowie zur Umsetzung der Richtlinie zum Schutz von Personen, die Verstöße gegen das Unionsrecht melden

IIA2-400091#00005

Sehr geehrte Damen und Herren,

die Verbraucherzentrale für Kapitalanleger e.V. konzentriert sich auf die Vertretung von Anlegern gegenüber Emittenten. Besondere Erfahrungen haben wir im Aktien- und Kapitalmarktrecht. So begleiten wir seit Jahren die Entwicklung bei der Volkswagen AG und versuchen, die Rechtsprechung zu Corporate Governance Fragen mitzuprägen. Daher konzentriert sich diese Stellungnahme auf die Erfahrungen, die bei börsennotierten Unternehmen gesammelt werden können.

Der vorliegende Entwurf scheint an andere „moderne Gesetze“ wie zum Beispiel die Musterfeststellungsklage in den §§ 606 ff. ZPO anzuknüpfen. Sie entsprechen zwar formal einem Gesetzgebungsauftrag, nicht aber dem tatsächlichen Regelungsbedarf[1]. Im rechtlichen und wirtschaftlichen Ergebnis privilegieren viele dieser „Placebo-Effekte“ immer wieder die Anspruchsgegner und verlängern damit eine effektive Rechtsverfolgung. Dabei verlangt ein effektiver Rechtsschutz hier vielmehr eine Reduzierung der ohnehin schon bestehenden Asymmetrien.

Auch dieses Gesetz lässt sich daran messen, welche Beiträge es zur Reduzierung von bekannten Schadenslagen leistet (1.). Es gibt genügend Beispiele, an denen sich das Gesetz verproben lässt (2.). Bei börsennotierten Gesellschaften stellt sich zudem die Frage, ob Short Seller oder die Unternehmen die Hinweisgeber schützen und bezahlen (3.). Der vorliegende Entwurf entspricht jedenfalls weder den Vorgaben aus dem Koalitionsvertrag (4.) und der EU-Richtlinie (5.), noch der Funktion des Hinweisgebers (6.). Auch die zu beachtenden verfassungsrechtlichen Gewährleistungen verlangen eine umfassende Nachbesserung (7.).

Inhalt

  1. Wirtschaftliche Relevanz
    • a. Studien zur Bedrohungslage durch Wirtschaftskriminalität
    • b. Handelnde Akteure
    • c. Betroffene Unternehmensbereiche
    • d. Deliktsgruppen
    • e. Funktionen des Hinweisgebers
    • f. Zwischenergebnis
  2. Beispiele
    • a. Adler Group SA
    • b. Clariant AG
    • c. Volkswagen AG
    • d. Wirecard AG
  3. Wer zahlt: Short Seller oder Unternehmen?
  4. Vorgaben des Koalitionsvertrags
  5. Vorgaben der EU-Richtlinie
  6. Funktionen des Whistleblowers
  7. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen
  8. Ergebnis

Diese Stellungnahme spricht einzelne ausgewählte Sach- und Rechtsfragen nur kurz und ohne Anspruch auf Vollständigkeit an. Außerdem unterbleibt aus Platzgründen eine eingehende Erörterung.

  1. Wirtschaftliche Relevanz

Whistleblowing zielt auf viele Lebenssachverhalte. Kein Lebensbereich und kein Rechtsgut soll dadurch relativiert werden, dass sich diese Stellungnahme auf die wirtschaftlich relevanten Lebenssachverhalte konzentriert. Es liegt im Eigeninteresse aller Eigentümer und Organe, vor allem strukturelle Schadenslagen zu ermitteln und zu beseitigen. Das gilt vor allem für unter dem Schlagwort „Wirtschaftskriminalität“ zusammengefassten und hinlänglich bekannten Begehungsweisen. Hinweisgeber kennen die Sachverhalte sowie die (digitale) Aktenlage. Daher lassen sich auf diesem Weg und mit wenig Aufwand auch komplexe Bedrohungs- bzw. Schadenslagen ermitteln, die sonst zumindest teilweise unerkannt bleiben können.

Zu den relevanten Daten und Deliktsgruppen gibt es mehrere Studien (a.), die hier nur auszugsweise reflektiert werden können. Alle Studien kommen zu ähnlichen Bedrohungslagen. Das gilt für die handelnden Akteure (b.), die betroffenen Unternehmensbereiche (c.) und die Deliktsgruppen (d.). Die Effektivität von jedem Hinweisgebersystem lässt sich hier in Euro und Cent messen.

  • a. Studien zur Bedrohungslage durch Wirtschaftskriminalität

Diese und andere teilweise jährlich erhobenen Studien gehen davon aus, dass es in jedem Jahr zu Milliardenschäden kommt.

Bitkom e.V.: 1999 gegründet, vertritt heute mehr als 2.000 Mitgliedsunternehmen – darunter rund 1.000 leistungsstarke KMUs, über 500 innovative Tech-Startups, nahezu die Hälfte der 40 DAX-Unternehmen und viele weitere Global Player. Umfrage unter Mitgliedern. https://www.bitkom.org/sites/default/files/2021-08/bitkom-slides-wirtschaftsschutz-cybercrime-05-08-2021.pdf

KPMG: Befragung von großen / mittleren / kleinen Unternehmen (HGB), repräsentative Auswahl von 1.000 Vertretern. https://home.kpmg/de/de/home/media/press-releases/2020/08/kpmg-studie-wirtschaftskriminalitaet-in-deutschland-2020.html

PWC: Befragung von 5.000 Führungskräften in 99 Ländern, davon 100 in Deutschland https://www.pwc.de/de/consulting/forensic-services/wirtschaftskriminalitaet-ein-niemals-endender-kampf.pdf

ACFE: Association of Certified Fraud Examiners – von Mitgliedern bearbeitete Fälle. https://acfepublic.s3-us-west-2.amazonaws.com/2020-Report-to-the-Nations.pdf

FHGR / EQS: Online-Umfrage, an der sich 1.239 Unternehmen beteiligt haben (Stichprobe 3/3 gmk). 314 CH, 291 D, 338 F, 296 GB. https://www.integrityline.com/de-ch/knowhow/white-paper/whistleblowing-report/

Bundeskriminalamt: Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität 2020 https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/Wirtschaftskriminalitaet/wirtschaftskriminalitaetBundeslagebild2020.html?nn=28030

  • b. Handelnde Akteure

Diese Daten zeigen, dass die meisten Handlungen von „innen“ kommen:

  • (ehemalige) Mitarbeiter
  • Lieferanten
  • Kunden
  • Externe Dienstleister / Berater

Hinweisgeber können die Sachverhalte besser und genauer identifizieren als jede interne Untersuchung. Außerdem schont das den Betriebsfrieden und das Arbeitsklima.

Das zeigt auch, dass der Hinweisgeber geschützt werden muss. Jede Meldung greift in „Besitzstände“ ein, die natürlich auch verteidigt werden. Nur eine anonyme Meldung schützt den Hinweisgeber vor Repressalien und Mobbing durch Kollegen und weitere Angehörige des Unternehmens sowie etwaige externe Nutznießer.

  • c. Betroffene Unternehmensbereiche

Alle vorliegenden Studien zeigen gleichermaßen, dass es in allen Unternehmensbereichen zu „Wirtschaftskriminalität“ kommen kann. Der Hinweisgeber muss aber auch nach der Aufarbeitung mit seinen Kollegen bzw. Vertragspartnern zusammenarbeiten können. Das gilt auch dann, wenn sich ein Hinweis als nicht relevant erwiesen hat. Auch gegen Mobbing hilft nur Anonymität.

  • d. Deliktsgruppen

Die meisten der ermittelten Deliktsgruppen lassen sich nur auf der Grundlage von Hinweisen von Mitarbeitern erkennen und weiter ermitteln. Ein sinnvolles Hinweisgebersystem stärkt somit die Selbstreinigungskräfte eines Unternehmens: Es melden sich die Mitarbeiter, die gewisse Fehlentwicklungen nicht akzeptieren. Empirische Untersuchungen zeigen, dass hier häufig ein sehr intensiver Mitteilungsbedarf besteht.

  • e. Funktionen des Hinweisgebers

Die Eigeninteressen jedes Unternehmens sind eindeutig:

  • Alle Ressourcen müssen optimal zur Erreichung der Geschäftschancen eingesetzt werden.
  • Fehlentwicklungen mit geringem externem Aufwand erkennen und beseitigen.
  • Das Management muss Haftungsrisiken vermeiden.
  • § 90 Abs. 2 AktG verlangt vom Vorstand, ein Überwachungssystem einzurichten, damit den Fortbestand der Gesellschaft gefährdende Entwicklungen früh erkannt werden können.
  • § 90 Abs. 3 AktG verlangt vom Vorstand der börsennotierten Gesellschaften zusätzlich, ein wirksames internes Kontrollsystem und Risikomanagementsystem einzurichten.

Daraus ergeben sich die folgenden wesentlichen Funktionen für ein Hinweisgebersystem:

  • Kernstück der Compliance
  • Whistleblowing
    • Erhebliche Einsparungsmöglichkeiten, bislang kaum genutzt
    • Minimalinvasive Beseitigung von „Ineffizienzen“
  • Mit Whistleblowing beginnt das Reputationsmanagement! Mögliche Alternativen:
    • Keine Ursachenbeseitigung = Schäden wachsen weiter
    • Presse
    • Finanzamt
    • Behörden wie z.B. Finanzmarktaufsicht
    • Short Seller

Wie weiter unten noch aufgezeigt wird, entspricht die Stellung des Hinweisgebers im vorliegenden Referentenentwurf nicht seiner Funktion im Hinweisgebersystem.

  • f. Zwischenergebnis

Diese Datenlage zeigt, dass der Hinweisgeberschutz im vorliegenden Gesetzentwurf noch deutlicher auf wirtschaftlich relevante Sachverhalte und die Vorgaben aus § 90 AktG fokussiert werden muss.

In den letzten Jahren konnten bei diesen beispielhaft genannten Gesellschaften besondere Erfahrungen mit Missständen und ihrer Aufarbeitung mit Hilfe von Hinweisgebern gewonnen werden. Diese Beispiele zeigen die Anforderungen an ein Hinweisgebersystem, von dem man zu komplexen und bilanzrelevanten Vorgängen Hinweise erwartet. Andernfalls scheinen sich Hinweisgeber an Short Seller zu wenden.

2. Beispiele

a. Adler Group SA

Kürzlich wurden bei Adler Missstände durch einen Short Seller aufgedeckt.

b. Clariant AG

Im Interview beschreibt Sandra Middel, Head of Group Compliance die Kontaktanbahnung und Gespräche mit dem Hinweisgeber: https://www.srf.ch/news/wirtschaft/clariant-in-den-schlagzeilen-whistleblower-bei-clariant-wie-kam-es-zur-brisanten-meldung

Die Hinweise führten zum Ausscheiden des CFO: https://www.boersen-zeitung.de/personen/bilanzfehler-kosten-clariant-cfo-den-job-6196305e-c610-11ec-8053-79480a4c7969

c. Volkswagen AG

Kurz nachdem Dieselgate am 22. September 2015 bekannt wurde, gab der Ministerpräsident von Niedersachsen und Aufsichtsrat Stephan Weil am 29. Oktober 2015 ein Interview. Er kritisierte die fehlende Bereitschaft, intern auf Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen. https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/ministerpraesident-weil-zu-vw-versuchung-ist-haeufig-gross-dinge-unter-den-tisch-zu-kehren-1.2712983

Bislang wurde nicht bekannt, ob sich ein Whistleblower mit Fakten gemeldet hat. Die Volkswagen AG hat dann mit den Herren Winterkorn und Stadler einen Haftungsvergleich geschlossen, der wohl auch umfassende Freistellungen von weiteren Personen beinhaltet.

d. Wirecard AG

Bei Wirecard gab es seit 2008 viele belastbare Hinweise, denen nicht nachgegangen wurde. Stattdessen wurden vielfach die Hinweisgeber rechtlich verfolgt:

  • Die SdK wollte die Beschlüsse der Wirecard-Hauptversammlung vom 24. Juni 2008 für nichtig erklären lassen. Der Vorwurf lautete, die Konzernrechnungslegung des im TecDax notierten Anbieters von Internet-Zahlungssystemen sei „in verschiedenen wesentlichen Punkten unvollständig und irreführend“ gewesen. Die Aktien verloren an Wert. Wirecard warf der SdK Insiderhandel sowie mittäterschaftliche Marktmanipulation vor und erstattete Anzeige gegen einen Vorstand. Weil dieser von dem fallenden Kurs profitiert hatte, trat er zurück. (Manager-Magazin vom 29.07.2008) Zwei ehemalige Mitglieder der SdK wurden zu Haftstrafen verurteilt. Wirecard reagiert auf den Vorwurf der Bilanzmanipulation und gibt ein Sondergutachten bei Ernst & Young in Auftrag (Handelsblatt vom 05.08.2008).
  • Ein ehemaliger Vorstand hat behauptet, dass er 2008 den Aufsichtsratsvorsitzenden darüber informiert habe, dass die veröffentlichten Zahlen nur durch massive Eingriffe in die Buchhaltung zustande kamen. Wirecard soll schon 15 Jahre vor der Insolvenz defizitär gewesen sein (Handelsblatt 28.07.2020).
  • Die Staatsanwaltschaft am LG München I geht nach Informationen der Süddeutschen Zeitung vom 2. Juli 2020 davon aus, dass bereits im Jahr 2014 der Entschluss gefasst wurde, mit vorgetäuschten, also erfundenen Einnahmen die Umsätze und Erlöse künstlich aufzublähen.
  • Schon im April 2015 berichtete die Financial Times unter der Überschrift „The House of Wirecards„. Dan McCrum bekam 2019 eine Anzeige der BaFin, siehe unten.
  • Anfang 2016 schickt der Investor Fraser Perring einen mehr als 100 Seiten langen Report seiner Analysefirma Zatarra an die BaFin.
  • Auch nach einem Bericht im Spiegel mit Vorwürfen gegenüber Wirecard im Frühjahr 2016 ist es zu keinen weiteren Untersuchungen gekommen. Insgesamt sollen 72 Verdachtsmeldungen bei der Financial Intelligence Unit (FIU) in Köln eingegangen sein, die zu keinem Ergebnis geführt haben. (Süddeutsche Zeitung 16. Juli 2020) Später wurde die Zahl auf 97 Verdachtsmeldungen erhöht und der Vorwurf erhoben, die Meldungen seien nicht an die Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet worden. (n-tv am 12.08.2020).
  • Die Compliance Abteilung der Bayerischen Landesbank (Bayern LB) hat Wirecard 2018 und 2019 bei der „Financial Intelligence Unit“ des Zolls wegen Geldwäsche gemeldet. Daher gab es auch keine Kredite mehr von der Bayern LB für Wirecard.
  • Am 30. Januar 2019 schreibt Dan McCrum in der Financial Times: „Executive At Wirecard suspected of using forged Contracts – Internal presentation pointed to possible „falsification of accounts

Diese nicht vollständige Zusammenfassung zeigt, in welchem Umfang belastbare Hinweise übergangen und teilweise die Autoren der Beiträge stattdessen rechtlich verfolgt wurden.

Alleine diese Vielzahl von übergangenen Chancen für eine Aufklärung hätte zu einem Umdenken auch in diesem Gesetzgebungsverfahren führen müssen. Ein effektiver Hinweisgeberschutz bedeutet keine „wirtschaftliche Belastung von Unternehmen“, sondern genau das Gegenteil. Schließlich hat Wirecard Schäden in einer volkswirtschaftlich relevanten Größenordnung verursacht.

Diese Beispiele laden auch dazu ein, nicht anonyme Hinweisgebersysteme zu hinterfragen. Besonders deutlich wird das bei Wirecard: Welcher einzelne Mitarbeiter und welcher Vorgesetze ist denn ernsthaft dazu bereit, solche Missstände intern und ohne den Schutz der Anonymität zu melden?

3. Wer zahlt: Short-Seller oder Unternehmen?

Gegenwärtig optimiert die Zusammenarbeit mit einem Short Seller die Situation des Whistleblowers:

  • Er bleibt anonym.
  • Er bekommt eine Belohnung / Gegenleistung.

4. Vorgaben des Koalitionsvertrags

Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung für die 20. Wahlperiode steht auf Seite 111:

Unternehmensrecht

Wir schützen ehrliche Unternehmen vor rechtsuntreuen Mitbewerberinnen und Mitbewerbern. Wir überarbeiten die Vorschriften der Unternehmenssanktionen einschließlich der Sanktionshöhe, um die Rechtssicherheit von Unternehmen im Hinblick auf Compliance-Pflichten zu verbessern und für interne Untersuchungen einen präzisen Rechtsrahmen zu schaffen.

Wir setzen die EU-Whistleblower-Richtlinie rechtssicher und praktikabel um. Whistleblowerinnen und Whistleblower müssen nicht nur bei der Meldung von Verstößen gegen EU-Recht vor rechtlichen Nachteilen geschützt sein, sondern auch von erheblichen Verstößen gegen Vorschriften oder sonstigem erheblichen Fehlverhalten, dessen Aufdeckung im besonderen öffentlichen Interesse liegt. Die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen wegen Repressalien gegen den Schädiger wollen wir verbessern und prüfen dafür Beratungs- und finanzielle Unterstützungsangebote.

Der vorliegende Gesetzentwurf entspricht nicht den Vorgaben aus dem Koalitionsvertrag. Dazu können hier nur einige wenige Punkte angesprochen werden:

  • Der Gesetzentwurf ordnet das Hinweisgebersystem nicht in die bestehende „Compliance-Ordnung“ ein.
  • Das Regelungskonzept ist bereits deshalb nicht praktikabel, weil die Hinweisgeber keine Anonymität erhalten. Man kann von keinem einzelnen Mitarbeiter verlangen, dass er sich bei wesentlichen Schadenslagen gegen das gesamte Management und die Kollegen stellt.
  • Beratungs- und finanzielle Unterstützungsangebote fehlen vollständig. Mehrere belastbare empirische Untersuchungen zeigen den Bedarf. Hinweisgeber riskieren nicht nur ihre berufliche und wirtschaftliche Existenz[2]. Ohne diese Angebote wird das Hinweisgebersystem nicht funktionieren.
  • Der Entwurf spricht mehrfach von vermeidbaren wirtschaftlichen Belastungen für Unternehmen, nicht aber von den Chancen für das Unternehmen. Auch die mit einem effektiven Hinweisgebersystem verbundene Reduzierung der Haftungsrisiken für das Management reflektiert der Entwurf nicht im Ansatz. Das gilt auch für die §§ 90 ff. AktG.

5. Vorgaben der EU-Richtlinie

An dieser Stelle unterbleibt auch eine eingehende Analyse der Vorgaben aus der EU-Richtlinie. Besonders auffällig ist die „Konzernregel“, wonach in einem Konzern ein Hinweisgebersystem ausreichen soll.

  • Die Richtlinie stellt auf jede einzelne juristische Person ab, nicht aber auf Ober- und Untergesellschaften.
  • Außerdem stellt sich die Frage, was der Gesetzentwurf unter „Konzern“ versteht. Bei bestimmten Beteiligungsverhältnissen bestehen nur sehr eingeschränkte Pflichten der abhängigen Gesellschaft, solange es keinen Unternehmensvertrag gibt. Hier kann beispielhaft auf § 294 HGB verwiesen werden. § 294 Absatz 3 Satz 2 HGB gibt nur einen Anspruch auf die Vorlage von Nachweisen für die Konzernabschlüsse. Die Einbeziehung in ein Hinweisgebersystem verschafft viele weitere Einsichten, die über diesen Rechtsrahmen deutlich hinausgehen.

6. Stellung des Hinweisgebers

Diese Ereignisse der letzten Jahre stellen den Gesetzentwurf auf den Prüfstand: Welchen dieser Skandale und volkswirtschaftlichen Schäden hätte ein Hinweisgebersystem auf der Grundlage des vorliegenden Gesetzentwurfs verhindert? Ohne den Schutz der Anonymität sowie die im Koalitionsvertrag angesprochenen Beratungs- und finanziellen Unterstützungsangebote wird sich jedes Hinweisgebersystem in Reisekostenabrechnungen und Mobbing verlieren.

Es spricht einiges dafür, die Stellung des Whistleblowers umfassend zu verbessern:

  • Anonyme Meldungen
  • Gesonderter Ansprechpartner für wirtschaftlich komplexe Sachverhalte
  • Beratungs- und finanzielle Unterstützungsangebote
  • Belohnung (Beispiel: https://www.sec.gov/whistleblower  )

Für weitere Einzelheiten verweise ich auf unsere Stellungnahme im Konsultationsverfahren zum Entwurf des Deutschen Corporate Governance Kodex 2022 (Nr. 7 in der Aufstellung): https://www.dcgk.de/de/konsultationen/aktuelle-konsultationen.html

7. Verfassungsrechtliche Gewährleistungen

Hier geht es nicht nur um die Grundrechte der Eigentümer aus Art. 14 Abs. 1 GG. Nicht aufgedeckte wirtschaftliche Skandale reduzieren die Ertragspotentiale. Es geht auch um die „Existenzgrundrechte“ natürlicher Personen, die vielfach gefährdet sind.

8. Ergebnis

Der vorliegende Entwurf ist zunächst einmal an die Vorgaben der EU-Richtlinie sowie des Koalitionsvertrages anzupassen. Dann sind die Interessen der Unternehmen zu wahren: Jede Ausgabe muss den Gesellschaftszweck verwirklichen und Fehlausgaben müssen vermieden werden. Ein effektives Hinweisgebersystem gibt den „Selbstheilungskräften“ in einem Unternehmen die nötigen Spielräume. Das dient auch dem Betriebsfrieden, den großflächige interne Untersuchungen nachhaltig gefährden.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Martin Weimann


[1] .            In einer gemeinsamen Erklärung werden die Präsidentinnen und Präsidenten der großen Landgerichte in Deutschland vom 21. September 2021 deutlich: „Die im Jahr 2018 eingeführte Musterfeststellungsklage hat sich als wenig tauglich erwiesen und nicht die vom Gesetzgeber prophezeite Verbreitung gefunden. Es müssen daher zwingend weitere Instrumente geschaffen werden.“ https://ordentliche-gerichtsbarkeit.hessen.de/pressemitteilungen/erkl%C3%A4rung-der-pr%C3%A4sidentinnen-und-pr%C3%A4sidenten-der-gro%C3%9Fen-landgerichte-in

[2] –            Die Sonderseite zeigt mehrere Beispiele von berühmten nicht anonymen Whistleblowern, die ihre berufliche bzw. wirtschaftliche Existenz verloren haben. Anders ging es nur Whistleblowern, die anonym blieben: https://whistleblowing.international/2021/12/13/beruehmte-whistleblower/

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil vom 16. Februar 2021 – 23922/19, Orientierungssatz: Juris

Gawlik / Liechtenstein

Ein Hinweisgeber (Whistleblower) hat vor der Erstattung einer Strafanzeige sorgfältig zu prüfen, ob die Informationen zuverlässig und zutreffend sind. Hat er aufgrund von Informationen in elektronischen Akten den Verdacht einer Straftat (hier: verbotene Sterbehilfe), so gehört zu der von ihm zu verlangenden sorgfältigen Prüfung, dass er in vorhandene ausführlichere physische Akten Einsicht nimmt, wenn diese ihm jederzeit zugänglich sind. (Pflicht von Whistleblowern zur sorgfältigen Faktenprüfung vor einer Anzeige)

„Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte“ weiterlesen
Translate »
WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner