Arbeitsrecht

Die Rechtsprechung zum Arbeitsrecht hängt immer von den besonderen Umstände des Einzelfalls ab. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 2. Juli 2003 – 2 AZR 235/02 – wägen die Gerichte in jedem Einzelfall die Grundrechte beider Seiten ab:

  • Whistleblower:
    • Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte (Art. 2 Abs. 1 iVm. Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG)
    • Meinungsfreihet (Art. 5 Abs. 1 GG)
  • Unternehmen:
    • Aus der Berufsfreihet (Art. 12 GG) ergibt sich das Loyalitäts- und Geheimhaltsungsinteresse des Unternehmens.

Daher sollte vor jeder Strafanzeige eine umfassende rechtliche Beratung stehen. Der gegenwärtige Stand der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts lässt sich daher hier auch nur auszugsweise zusammenfassen.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 15. Dezember 2016 – 2 AZR 42/16, Rn14 (Juris-Rn. 14)

a) Die Einschaltung der Staatsanwaltschaft durch einen Arbeitnehmer wegen eines vermeintlich strafbaren Verhaltens des Arbeitgebers oder seiner Repräsentanten stellt als Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte – soweit nicht wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben gemacht werden – im Regelfall keine eine Kündigung rechtfertigende Pflichtverletzung dar (BVerfG 2. Juli 2001 – 1 BvR 2049/00 – zu II 1 b cc bbb der Gründe). Dies kann ua. dann anders zu beurteilen sein, wenn trotz richtiger Darstellung des angezeigten objektiven Sachverhalts für das Vorliegen der nach dem Straftatbestand erforderlichen Absicht keine Anhaltspunkte bestehen und die Strafanzeige sich deshalb als leichtfertig und unangemessen erweist (zur fristlosen Kündigung eines Mietverhältnisses vgl. BVerfG 2. Oktober 2001 – 1 BvR 1372/01 – zu 2 b der Gründe). Zwar sind auch die in Strafanzeigen enthaltenen Werturteile vom Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG erfasst. Das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ist aber nicht vorbehaltlos gewährt, sondern steht gem. Art. 5 Abs. 2 GG unter dem Schrankenvorbehalt der allgemeinen Gesetze. Das erfordert eine fallbezogene Abwägung zwischen dem Grundrecht der Meinungsfreiheit und dem vom grundrechtsbeschränkenden Gesetz – hier § 241 Abs. 2 BGB – geschützten Rechtsgut (BVerfG 9. Oktober 1991 – 1 BvR 221/90 – zu B II 3 a der Gründe, BVerfGE 85, 23). Die Anzeige des Arbeitnehmers darf sich deshalb mit Blick auf die schutzwürdigen Interessen des Arbeitgebers nicht als eine unverhältnismäßige Reaktion auf sein Verhalten oder das seiner Repräsentanten darstellen. Dabei können als Indizien für eine unverhältnismäßige Reaktion sowohl die Berechtigung der Anzeige als auch die Motivation des Anzeigenden oder ein fehlender innerbetrieblicher Hinweis auf die angezeigten Missstände sprechen (BAG 3. Juli 2003 – 2 AZR 235/02 – zu II 3 b dd der Gründe, BAGE 107, 36). Soweit ihm dies zumutbar ist (BAG 3. Juli 2003 – 2 AZR 235/02 – zu II 3 b dd (2) der Gründe, aaO), ist der Arbeitnehmer wegen der sich aus der Pflicht zur Rücksichtnahme ergebenden Pflicht zur Loyalität und Diskretion gehalten, Hinweise auf strafbares Verhalten in erster Linie gegenüber Vorgesetzten oder anderen zuständigen Stellen oder Einrichtungen vorzubringen. Es ist daher zu berücksichtigen, ob ihm andere wirksame Mittel zur Verfügung standen, um etwas gegen den angeprangerten Missstand zu tun, andererseits aber auch ein öffentliches Interesse an einer Offenlegung der Information (zu Art. 10 Abs. 1 EMRK vgl. EGMR 17. September 2015 [Langner] – 14464/11 – Rn. 42 – 44; 21. Juli 2011 [Heinisch] – 28274/08 – Rn. 64 ff., EuGRZ 2011, 555).

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 27. September 2012 – 2 AZR 646/11, Juris-Rn. 37, 38:

a) Im Fall der Erstattung von Anzeigen bei Strafverfolgungsbehörden oder anderen zuständigen Stellen („Whistleblowing“) ist eine vertragswidrige Pflichtverletzung nicht stets schon dann zu verneinen, wenn der Arbeitnehmer die Anzeige erstattet, ohne dabei wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben zu machen (BAG 7. Dezember 2006 – 2 AZR 400/05 – Rn. 18, AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 55 = EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 70; 3. Juli 2003 – 2 AZR 235/02 – zu II 3 b der Gründe, BAGE 107, 36). Eine Anzeige kann unabhängig vom Nachweis der mitgeteilten Verfehlung und ihrer Strafbarkeit ein Grund zur Kündigung sein, wenn sie sich als eine unverhältnismäßige Reaktion auf das Verhalten des Arbeitgebers oder eines seiner Repräsentanten darstellt. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, nach der Strafanzeigen gegen den Arbeitgeber mit dem Ziel, Missstände in Unternehmen oder Institutionen offenzulegen, grundsätzlich in den Anwendungsbereich des Art. 10 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten fallen (EGMR 21. Juli 2011 – 28274/08 – [Heinisch] Rn. 63 ff., AP BGB § 626 Nr. 235 = EzA BGB 2002 § 626 Anzeige gegen Arbeitgeber Nr. 1), schließt eine solche Bewertung nicht generell aus.
b) Es spricht einiges dafür, diese Grundsätze sinngemäß auf den Bereich innerbetrieblicher „Anzeigen“ zu übertragen. Auch unterhalb der Schwelle eines strafbaren Verhaltens muss ein Arbeitnehmer bei der Mitteilung vermeintlicher Missstände im Betrieb angemessen auf Persönlichkeitsrechte seiner Arbeitskollegen und Vorgesetzten Rücksicht nehmen. Das folgt schon aus dem berechtigten Interesse des Arbeitgebers an der Wahrung des Betriebsfriedens.
(BAG, Urteil vom 27. September 2012 – 2 AZR 646/11 –, Rn. 37 – 38, juris)

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 14. Dezember 2011 – 10 AZR 283/10, Juris-Rn. 22 – 23:
c) Dem Beklagten steht kein Zurückbehaltungsrecht (§ 273 BGB) an den Geschäftsunterlagen zu.
Zutreffend verweist der Beklagte darauf, dass ihm aus rechtsstaatlichen Gründen keine zivil- oder arbeitsrechtlichen Nachteile entstehen dürfen, wenn er – jedenfalls soweit er keine wissentlich unwahren oder leichtfertig falschen Angaben macht – staatsbürgerliche Rechte im Rahmen eines Straf- oder behördlichen Ermittlungsverfahrens wahrnimmt (BVerfG 2. Juli 2001 – 1 BvR 2049/00 – zu II 1 b cc bbb der Gründe, AP BGB § 626 Nr. 170 = EzA BGB § 626 Nr. 188; zu den sog. Whistleblowern jetzt auch: EGMR 21. Juli 2011 – 28274/08 – [Heinisch] NZA 2011, 1269). Geht man davon aus, dass die verfassungsrechtlichen Rechte des Beklagten (Art. 2 Abs. 1 GG iVm. Rechtsstaatsprinzip) in die Schutz- und Rücksichtnahmepflicht der Klägerin gemäß § 241 Abs. 2 BGB ausstrahlen, folgt daraus noch kein Recht des Beklagten, die streitgegenständlichen Geschäftsunterlagen weiterhin behalten zu können. Mit seiner Anzeigenerstattung bei der Staatsanwalt B und der Mitteilung an die BaFin hat der Beklagte die von der Rechtsordnung erlaubten und gebilligten Möglichkeiten wahrgenommen, die seiner Meinung nach beanstandungswürdigen Vorgänge bei der Klägerin im Zusammenhang mit der „P-Übernahme“ aufzuzeigen und sie von den dafür zuständigen staatlichen Stellen prüfen zu lassen. Durch die Übersendung der Unterlagen an diese Behörden hat er seine staatsbürgerlichen Rechte ausgeübt. Seinem Anliegen ist damit hinreichend Rechnung getragen. Für einen weiteren Verbleib der Geschäftsunterlagen in seinem Besitz gibt es keine Grundlage. Sein Hinweis, er benötige sie, um sich mit ihrer Hilfe in einem möglichen späteren zivil- oder strafrechtlichen Verfahren verteidigen zu können, rechtfertigt einen weiteren Verbleib nicht. Dies gilt umso mehr, als der Beklagte in einem solchen Fall einen Anspruch auf Gewährung von Akteneinsicht hätte, wenn sich in den entsprechenden Akten für ihn entlastendes Material befindet (KK-Gieg 6. Aufl. § 475 Rn. 1). Damit bestünde eine hinreichende Möglichkeit, die dann noch notwendigen Informationen aus den Unterlagen für seine eigene „Verteidigung“ zu erlangen. Eines Zurückbehaltungsrechts an den Geschäftsunterlagen zum Zwecke einer künftigen Verteidigung in einem Zivil- oder Strafverfahren bedarf es demgemäß nicht.

Die wesentlichen Grundsätze für eine Kündigung von Whistleblowern hat das Bundesarbeitsgericht erstmals in dem Urteil vom 03. Juli 2003 – 2 AZR 235/02, BAGE 107, 36-49, Rn. 26 – 42 herausgearbeitet:

  1. Das Landesarbeitsgericht hat den Rechtsbegriff der verhaltensbedingten Kündigung (§ 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG) verkannt, indem es eine mögliche „kündigungsrelevante“ Pflichtverletzung nur bei einer auf wissentlich unwahren oder leichtfertig falschen Angaben beruhenden Strafanzeige des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber oder seinen Vorgesetzten sehen will. Es sind jedoch weitere Sachverhalte denkbar, in denen der Arbeitnehmer durch eine Anzeigenerstattung erheblich seine vertraglichen Pflichten verletzt. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts schließen die auch im Arbeitsverhältnis zu beachtenden verfassungsrechtlichen Vorgaben eine verhaltensbedingte ordentliche Kündigung wegen schuldhafter Verletzung von arbeitsvertraglichen Nebenpflichten im Zusammenhang mit einer vom Arbeitnehmer gegen einen Vorgesetzten erstatteten Strafanzeige nicht immer aus.
    a) Ausgehend von der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 2. Juli 2001 (- 1 BvR 2049/00 – AP BGB § 626 Nr. 170 = EzA BGB § 626 nF Nr. 188) hat das Landesarbeitsgericht zutreffend angenommen, dass den arbeitsvertraglichen Nebenpflichten des Arbeitnehmers durch das Verfassungsrecht Grenzen gesetzt werden. Zeigt ein Arbeitnehmer seinen Arbeitgeber „freiwillig“ bei der Strafverfolgungsbehörde an, so kann die darin liegende Wahrnehmung staatsbürgerlicher Rechte im Strafverfahren regelmäßig nicht zu einer Verletzung der arbeitsvertraglichen Pflichten führen und eine deswegen erklärte Kündigung sozial rechtfertigen (BVerfG 2. Juli 2001 aaO; davor bereits BAG 4. Juli 1991 – 2 AZR 80/91 – RzK I 6 a Nr. 74). Mit dem Rechtsstaatsprinzip ist es regelmäßig unvereinbar, wenn eine Anzeige und Aussage im Ermittlungsverfahren zu zivilrechtlichen Nachteilen für den anzeigenden Arbeitnehmer bzw. Zeugen führen würde, es sei denn, er hat wissentlich unwahre oder leichtfertig falsche Angaben gemacht (BAG 4. Juli 1991 aaO).
    b) Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts ist jedoch eine vertragswidrige Pflichtverletzung nicht ausnahmslos dann zu verneinen, wenn der Arbeitnehmer eine Anzeige, ohne wissentlich oder leichtfertig falsche Angaben zu machen, bei den Strafverfolgungsbehörden erstattet.
    aa) Das Bundesverfassungsgericht hat in der Entscheidung vom 2. Juli 2001 (- 1 BvR 2049/00 – AP BGB § 626 Nr. 170 = EzA BGB § 626 nF Nr. 188) einen solchen Rechtssatz nicht aufgestellt. Es hat lediglich für den „Regelfall“ ausgeführt, auch bei einer „freiwilligen“ Einschaltung der Staatsanwaltschaft durch den Arbeitnehmer dürfe sein Handeln aus rechtsstaatlichen Gründen nicht zu einem wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung führen. Wie schon die Formulierung „im Regelfall“ zeigt, sind – auch – von Verfassungs wegen weitere Ausnahmefälle denkbar, in denen eine Kündigung auch dann möglich ist, wenn die vom Bundesverfassungsgericht selbst formulierte Einschränkung der wissentlich oder leichtfertig gemachten falschen Angaben nicht eingreift. Weiter gilt es zu bedenken, dass sich die anonyme Anzeige im Streitfall nicht gegen den Arbeitgeber selbst, sondern gegen einen Vorgesetzten des Anzeigeerstatters richtete und mit solchen strafbaren Pflichtverletzungen begründet worden war, die den auf öffentliche Zuwendungen angewiesenen Arbeitgeber und dessen Vermögen betrafen. Anders als im Fall des Bundesverfassungsgerichts gewinnt deshalb hier der Aspekt eines innerbetrieblichen Abhilfeversuchs eine besondere Bedeutung.
    bb) Dem Arbeitsvertrag sind zahlreiche Nebenpflichten immanent. Dazu gehört insbesondere die vertragliche Rücksichtnahmepflicht (§ 242 BGB; jetzt ausdrücklich § 241 Abs. 2 BGB nF; vgl. zuletzt BAG 10. Oktober 2002 – 2 AZR 472/01 – AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 44 = EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 58; MünchArbR-Blomeyer 2. Aufl. § 51 Rn. 19 ff.; ErfK/Preis 3. Aufl. § 611 BGB Rn. 906). Der Arbeitnehmer ist verpflichtet, auf die geschäftlichen Interessen des Arbeitgebers Rücksicht zu nehmen und sie im zumutbaren Umfang zu wahren (zusammenfassende Übersicht bei BGH 23. Februar 1989 – IX ZR 236/86 – BB 1989, 649; Müller NZA 2002, 424, 427 ff. jeweils mwN; Erman-Hanau BGB 10. Aufl. § 611 Rn. 508; MünchArbR-Blomeyer 2. Aufl. § 51 Rn. 19 ff.). Der Arbeitnehmer hat darüber hinaus die Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse zu wahren und den Arbeitgeber über alle wesentlichen Vorkommnisse im Betrieb in Kenntnis zu setzen, vor allem um Schäden des Arbeitgebers zu verhindern (Palandt-Putzo BGB 62. Aufl. § 611 Rn 40; ErfK/Preis 3. Aufl. § 611 BGB Rn. 906; Stahlhacke/Preis/Vossen Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis 8. Aufl. Rn. 692; MünchArbR-Blomeyer 2. Aufl. § 53 Rn. 55; Gach/Rützel BB 1997, 1959, 1961).
    cc) Die vertragliche Rücksichtnahmepflicht wird durch die Grundrechte näher ausgestaltet (zuletzt BAG 10. Oktober 2002 – 2 AZR 472/01 – AP KSchG 1969 § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 44 = EzA KSchG § 1 Verhaltensbedingte Kündigung Nr. 58). Kollidiert das dem Arbeitgeber als Ausfluss seiner grundrechtlich geschützten Betätigungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) zustehende Recht, vom Arbeitnehmer die Einhaltung eines gewisses Maßes von Rücksicht auf seine Interessen zu verlangen, mit grundrechtlich geschützten Positionen des Arbeitnehmers, so ist das Spannungsverhältnis im Rahmen der Konkretisierung und Anwendung der Generalklausel des § 242 BGB (jetzt auch § 241 Abs. 2 BGB nF) grundrechtskonform auszugleichen und sind die arbeitsvertraglichen Nebenpflichten entsprechend zu konkretisieren (BAG 10. Oktober 2002 aaO). Dabei sind die kollidierenden Grundrechte in ihrer Wechselwirkung zu sehen und so zu begrenzen, dass die bei der Ausformung der vertraglichen Rücksichtnahmepflicht geschützten Rechtspositionen für alle Beteiligten möglichst weitgehend wirksam werden (praktische Konkordanz; zuletzt BAG 10. Oktober 2002 aaO mwN).
    (1) Mit der Erstattung einer Strafanzeige nimmt der Arbeitnehmer eine von Verfassungs wegen geforderte und von der Rechtsordnung erlaubte und gebilligte Möglichkeit der Rechtsverfolgung wahr (so bereits BVerfG 25. Februar 1987 – 1 BvR 1086/85 – BVerfGE 74, 257).
    Da es der Rechtsstaat – abgesehen von gesetzlich geregelten Ausnahmefällen (Notwehr, Nothilfe, Selbsthilfe, Notstand und vorläufige Festnahme) – dem Bürger verwehrt, sein wirkliches oder vermeintliches Recht mit Gewalt durchzusetzen, muss er sein Recht vor staatlichen Gerichten suchen und es mit Hilfe der Staatsgewalt verfolgen. Aus dem Verbot der Privatgewalt und der Verstaatlichung der Rechtsdurchsetzung folgt umgekehrt die Pflicht des Staates, für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen und die Beachtung ihrer Rechte sicherzustellen. Mit diesen Grundgeboten des Rechtsstaats ist es nicht vereinbar, wenn derjenige, der in gutem Glauben eine Strafanzeige erstattet hat, Nachteile dadurch erleidet, dass sich seine Behauptung nach behördlicher Prüfung als unrichtig oder nicht aufklärbar erweist. Die (nicht wissentlich unwahre oder leichtfertige) Strafanzeige eines Bürgers liegt im allgemeinen Interesse an der Erhaltung des Rechtsfriedens und an der Aufklärung von Straftaten; der Rechtsstaat kann darauf bei der Strafverfolgung nicht verzichten (BVerfG 25. Februar 1987 – 1 BvR 1086/85 – BVerfGE 74, 257). Dementsprechend nimmt der Arbeitnehmer mit der Erstattung einer Strafanzeige ein von der Rechtsordnung eingeräumtes Grundrecht (Art. 2 Abs. 1 GG iVm. dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3 GG) wahr (BVerfG 2. Juli 2001 – 1 BvR 2049/00 – AP BGB § 626 Nr. 170 = EzA BGB § 626 nF Nr. 188).
    Ob der Schutzbereich des Art. 17 GG berührt ist (siehe Senat 18. Juni 1970 – 2 AZR 369/69 – AP KSchG § 1 Nr. 82; Colneric AiB 1987, 260, 265; Graser Whistleblowing – Arbeitnehmeranzeigen im US-amerikanischen und deutschen Recht (2000) S. 126 ff.; Wendeling-Schröder Autonomie im Arbeitsrecht 1994 S. 192; zuletzt Deiseroth AuR 2002, 161, 166), kann im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen dahingestellt bleiben (offen gelassen auch BVerfG 2. Juli 2001- 1 BvR 2049/00 – AP BGB § 626 Nr. 170 = EzA BGB § 626 nF Nr. 188). Auf den – zusätzlichen – Schutz des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG kann sich der Kläger jedoch nicht berufen. Zwar unterfallen Arbeitnehmeranzeigen und Beschwerden grundsätzlich dem Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG (ErfK/Dieterich 3. Aufl. Art. 5 GG Rn. 37; Graser aaO S. 109; Hinrichs in Das Arbeitsrecht der Gegenwart Bd. 18 (1980) S. 35, 39; Müller NZA 2002, 424, 429 f.; Wendeling-Schröder aaO S. 156 ff. Zusammenfassung: S. 211). Dies kann aber nicht für eine anonym erstattete Anzeige, bei der der Anzeiger ungenannt bleibt und gerade nicht seine persönliche Meinung kundtun will, gelten. Eine solche anonyme Anzeige fällt nicht in den Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 GG. Ihr fehlt es gerade an dem konstituierenden Element der Subjektivität (vgl. ErfK/Dieterich 3. Aufl. Art. 5 GG Rn. 5 mwN). Ohne die deutlich erkennbare persönliche Zuordnung kann eine anonyme Äußerung nicht an der geistigen Auseinandersetzung teilnehmen.
    (2) Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist die Unternehmerfreiheit des Arbeitgebers im Sinne freier Gründung und Führung von Unternehmen durch Art. 12 Abs. 1 GG geschützt (BVerfG 1. März 1979 – 1 BvR 532, 533/77, 419/78 – und – 1 BvL 21/78 – BVerfGE 50, 290, 363).
    Als Ausfluss der verfassungsrechtlich geschützten Unternehmerfreiheit hat der Arbeitgeber auch ein rechtlich geschütztes Interesse, nur mit solchen Arbeitnehmern zusammenzuarbeiten, die die Ziele des Unternehmens fördern und das Unternehmen vor Schäden bewahren. Regelmäßig wird ein Unternehmen im Wettbewerb nur bestehen können, wenn insbesondere betriebliche Abläufe und Strategien nicht in die Öffentlichkeit gelangen und der Konkurrenz bekannt werden. Deshalb stehen nach § 17 UWG Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse unter strafrechtlichem Schutz. Ein Arbeitgeber, der – wie der Beklagte – von Zuwendungen der öffentlichen Hand abhängig ist, kann durch die mit der Einleitung eines Strafverfahrens verbundene negative öffentliche Publizität sogar in seiner Existenzgrundlage gefährdet werden. Dies gilt umso mehr, als es um die Frage des rechtmäßigen Erhalts von Zuwendungen geht.
    Demgegenüber kann nicht eingewandt werden, das Interesse des Arbeitgebers, Gesetzesverstöße, die er oder seine Hilfspersonen im Betrieb begehen oder begangen haben, zu verheimlichen, werde durch die Verfassung nicht geschützt (Colneric AiB 1987, 260). Dieser Einwand gilt jedenfalls dann nicht, wenn – wie hier – ein selbst nicht rechtswidrig und vorsätzlich handelnder Arbeitgeber betroffen ist.
    dd) Unter Berücksichtigung dieses Rahmens sind die vertraglichen Rücksichtnahmepflichten dahin zu konkretisieren, dass sich die Anzeige des Arbeitnehmers nicht als eine unverhältnismäßige Reaktion auf ein Verhalten des Arbeitgebers oder seines Repräsentanten darstellen darf (Senat 4. Juli 1991 – 2 AZR 80/91 – RzK I 6 a Nr. 74; MünchArbR-Blomeyer 2. Aufl. § 53 Rn. 70). Dabei können als Indizien für eine unverhältnismäßige Reaktion des anzeigenden Arbeitnehmers sowohl die Berechtigung der Anzeige als auch die Motivation des Anzeigenden oder ein fehlender innerbetrieblicher Hinweis auf die angezeigten Missstände sprechen. Dies gilt umso mehr, als auch die vertragliche Verpflichtung des Arbeitnehmers im Raum steht, den Arbeitgeber vor drohenden Schäden durch andere Arbeitnehmer zu bewahren (BGH 23. Februar 1989 – IX ZR 236/86 – BB 1989, 649, 650).
    (1) Die Gründe, die den Arbeitnehmer dazu bewogen haben, die Anzeige zu erstatten, verdienen eine besondere Bedeutung (Gach/Rützel BB 1997, 1959, 1960; vgl. auch Müller NZA 2002, 424, 433). Erfolgt die Erstattung der Anzeige ausschließlich um den Arbeitgeber zu schädigen bzw. „fertig zu machen“, kann – unter Berücksichtigung des der Anzeige zugrunde liegenden Vorwurfs – eine unverhältnismäßige Reaktion vorliegen (BAG 4. Juli 1991 – 2 AZR 80/91 – RzK I 6 a Nr. 74; LAG Köln 7. Januar 2000 – 4 Sa 1273/99 -; MünchArbR-Blomeyer 2. Aufl. § 53 Rn. 70). Durch ein derartiges pflichtwidriges Verhalten nimmt der Arbeitnehmer keine verfassungsrechtlichen Rechte wahr, sondern verhält sich – jedenfalls gegenüber dem Arbeitgeber – rechtsmissbräuchlich.
    (2) Entgegen einer teilweise vertretenen Auffassung (vgl. dazu Gach/Rützel BB 1997, 1959, 1961 f.; Berkowsky NZA-RR 2001, 1, 16; KR-Etzel 6. Aufl. § 1 KSchG Rn. 427; KR-Fischermeier 6. Aufl. § 626 BGB Rn. 408; Preis Prinzipien des Kündigungsrechts bei Arbeitsverhältnissen S. 366; ders. DB 1988, 1444, 1448; Preis/Reinfeld AuR 1989, 361, 370; Müller NZA 2002, 424, 432; MünchArbR-Blomeyer 2. Aufl. § 53 Rn. 69 ) gebührt der innerbetrieblichen Klärung nicht generell der Vorrang. Dies würde dem verfassungsrechtlichen Rahmen und den grundrechtlichen Positionen des Arbeitnehmers nicht gerecht. Es ist vielmehr im Einzelfall zu bestimmen, wann dem Arbeitnehmer eine vorherige innerbetriebliche Anzeige ohne weiteres zumutbar ist und ein Unterlassen ein pflichtwidriges Verhalten darstellt (Gach/Rützel aaO S. 1961; Müller aaO S. 435).
    Eine vorherige innerbetriebliche Meldung und Klärung ist dem Arbeitnehmer allerdings unzumutbar, wenn er Kenntnis von Straftaten erhält, durch deren Nichtanzeige er sich selbst einer Strafverfolgung aussetzen würde (KR-Etzel 6. Aufl. § 1 KSchG Rn. 427). Entsprechendes gilt auch bei schwerwiegenden Straftaten oder vom Arbeitgeber selbst begangenen Straftaten. Hier muss regelmäßig die Pflicht des Arbeitnehmers zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers zurücktreten. Weiter trifft den anzeigenden Arbeitnehmer auch keine Pflicht zur innerbetrieblichen Klärung, wenn Abhilfe berechtigterweise nicht zu erwarten ist. Den Arbeitnehmer in einer solchen Konstellation auf die innerbetriebliche Abhilfe zu verweisen, wäre unverhältnismäßig und würde unzulässigerweise in seine Freiheitsrechte eingreifen. Hat der Arbeitnehmer den Arbeitgeber auf die gesetzeswidrige Praxis im Unternehmen hingewiesen, sorgt dieser jedoch nicht für Abhilfe, besteht auch keine weitere vertragliche Rücksichtnahmepflicht mehr (Preis DB 1988, 1444, 1448; Preis/Reinfeld AuR 1989, 361, 370; Erman-Hanau BGB 10. Aufl. § 611 Rn. 510; MünchArbR-Blomeyer 2. Aufl. § 53 Rn. 70).
    Etwas anderes wird hingegen dann gelten, wenn nicht der Arbeitgeber oder sein gesetzlicher Vertreter, sondern ein Mitarbeiter seine Pflichten verletzt oder strafbar handelt. Hier erscheint es eher zumutbar, vom Arbeitnehmer – auch wenn ein Vorgesetzter betroffen ist – vor einer Anzeigenerstattung einen Hinweis an den Arbeitgeber zu verlangen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um Pflichtwidrigkeiten handelt, die – auch – den Arbeitgeber selbst schädigen.
    (BAG, Urteil vom 03. Juli 2003 – 2 AZR 235/02 –, BAGE 107, 36-49, Rn. 26 – 42)


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